Chacune son tour – die Ordnung der Bilder von „Meet Me in Quarantine“
Text in gleichnamiger Publikation von Dr. Emmanuel Mir

Wie lässt sich die Notwendigkeit eines guten Lebens im sozialen Gefüge mit dem Verlangen nach individueller Anerkennung und Selbstverwirklichung vereinbaren? Welchen Kompromiss muss ich als Subjekt schließen, um mich in meiner unantastbaren Identität zu entfalten und zugleich dem anderen respektvoll zu begegnen? Durch eine wohlbalancierte Alternanz im Austausch, behauptet der Geisteswissenschaftler und Universalgelehrte Tzvetan Todorov „Jede*r der Reihe nach“ – „chacun son tour“ in Todorovs französischem Originaltext – heißt das Spiel, das wir alle intuitiv spielen, wenn wir in einer Gruppe zur Geltung kommen und deren Ordnung zugleich nicht zerstören möchten. Diese fundamentale Erfahrung macht man im frühesten Alter in der Familie und später in größeren gesellschaftlichen Strukturen: Ich darf mit deinen Spielzeugen spielen, wenn ich bereit bin, meine eigenen zu teilen; ich kann erst sprechen, wenn ich dem anderen zugehört habe; ich bekomme Aufmerksamkeit und Anerkennung nur dann, wenn ich mein Gegenüber mit denselben Mitteln behandle. Immer schön der Reihe nach. „Jede Form des Dialogs beruht auf einem Vertrag auf Gegenseitigkeit: Meine Worte bezeugen meine Existenz, legen aber gleichzeitig die Existenz des anderen fest.“ Für Todorov ist dieses Wechselspiel eine der wichtigsten Regeln für ein einigermaßen friedvolles, einigermaßen egalitäres Zusammenleben. Dieser Konsens ist eine (übrigens: selten reflektierte) Universalnorm, deren Missachtung schwerwiegende Konsequenzen haben kann. Jede*r Social-Media-User*in weiß es: Ich like, wer mich likt, und wer meine Likes nicht likt, hat das ungeschriebene Gesetz gebrochen und gehört geblockt. Wehe, das Verlangen nach Anerkennung wird nicht anerkannt!
Neuere Kommunikationstechnologien übernehmen also uralte anthropologische Muster; auch dort unterscheidet die Aufmerksamkeitsökonomie zwischen interessierten Kreditgeber*innen und säumigen Schuldner*innen. Besagte Kommunikationstechnologien können sogar die Dynamik dieses Gesetzes verstärken, wie man es im Zuge der letzten Lockdowns erlebt hat. Bei aller Verkümmerung des direkten und sinnlichen Austauschs hat die Covid-19-Pandemie eine positive Auswirkung auf die Spielregeln unserer zwischenmenschlichen Verständigung gehabt. Denn als alle privaten Treffen, beruflichen Besprechungen und sogar Feierlichkeiten in den digitalen Raum verlagert wurden, etablierten sich Kommunikationstools, bei denen der geduldige Umgang mit dem Wort des anderen Voraussetzung ist. Eine Konferenz zu zweit oder zu dreißig funktioniert nur, wenn jede*r gesittet darauf wartet, an der Reihe zu sein. Schluss mit der lustigen Kakofonie von Gesprächen in einer Kneipe, mit dem fröhlichen Durcheinander beim Familientreffen. Effektive Interaktion braucht Selbstdisziplinierung und die Einhaltung einfacher kommunikativer Vereinbarungen.
Ich meine damit nicht, dass die Suche nach effektiver Interaktion ein Ziel von „Meet Me in Quarantine“ war. Jedoch stellen sowohl die konzeptuelle Herangehensweise als auch das ästhetische Ergebnis der Zusammenarbeit von Stefanie Pluta und Katja Stuke im Sinne eines künstlerischen Austauschs ein Musterbeispiel der Kollaboration dar und – innerhalb eines bestimmten Rahmens – eine geeignete Reaktion auf ein unerwartetes und plötzliches Hindernis im globalen Maßstab. Diesen „bestimmten Rahmen“ des Austauschs bildet das Kunstmentorat NRW, ein Förderprogramm des Ministeriums für Kultur und Wissenschaft NRW, das Künstler*innen in Kontakt mit erfahrenen Kolleg*innen bringt und dabei zum Aufbau eines effizienten Netzwerks und zur Steigerung der Sichtbarkeit verhilft. Stuke war eine der Mentorinnen in der ersten Staffel des Programms 2019/2020, Pluta ihr Mentee. In dieser Tandem-Konstellation tauschten sich beide Künstlerinnen über alle Belange ihres beruflichen Lebens aus und unternahmen verschiedene Aktivitäten. Das „plötzliche Hindernis im globalen Maßstab“ war die eben erwähnte Covid-19-Pandemie, die den Kunstbetrieb lahmlegte und eine unmittelbare zwischenmenschliche Kommunikation unmöglich machte. Das vorliegende Buch ist die trotzige Antwort auf die verhängte Kontaktbeschränkung, ein dialogisches Angebot in Zeiten physischer Isolation, ein Versuch weiterzumachen, wenn auch nicht so wie vorher.
Der Spielmodus von „Meet Me …“ ist schnell beschrieben: Eine der Künstlerinnen veröffentlicht auf einem für diesen Zweck eingerichteten Instagram-Account ein Bild aus ihrem Archiv. Die andere Künstlerin reagiert auf diesen Impuls, sucht in ihrem eigenen Fotoarchiv ein Motiv, das sich auf das erste bezieht – wobei der Bezug höchst subjektiv ausfällt –, und veröffentlicht es. Hierauf reagiert die erste Künstlerin wiederum mit einem neuen Motiv etc. Immer schön der Reihe nach. Chacune son tour. Das Projekt startete in der Initialphase der ersten Pandemie-Welle, als der Lockdown von Politik und Bevölkerung in Deutschland ernst gemeint war und zu einem wahren Einstellen des öffentlichen Lebens führte, und wurde beendet, als beide Fotografinnen sich wieder physisch treffen durften.
Dieser spezifische Spielmodus sorgt für die Ordnung der Bilder und damit für die ästhetische Einordnung des ganzen Projektes. Denn mehr als die inhärente Qualität jedes einzelnen Motivs, das man grob in die ziemlich unaufgeräumte Schublade der Street Photography stecken könnte, bestimmt ihre Suite-artige Zusammenstellung den Charakter von „Meet Me …“. Die Ansichten reihen sich wie Perlen einer Kette aneinander, wobei das lineare, sozusagen kurzsichtige Eingehen auf das letztgepostete Bild der Gesamtwirkung aller 102 Aufnahmen vorangestellt wird. Der Fluss der Bilder schafft eine offene Narration mit sehr losem Zusammenhang; die Themen und Gattungen wechseln sich ab ohne sichtbare Logik – außer der der selbst auferlegten Spielregeln. Die Rezipient*innen, die sich für diese chronologische und geradlinige Lesart entscheiden, können an der kombinierenden Lust beider Fotografinnen teilnehmen und nachvollziehen, wie ein Motiv das andere erwidert.
Auch bestimmend für die Rezeption (der ersten Hälfte) des Projektes ist die vorgegebene Struktur der Instagram-Seite. Ihre Grid-Ästhetik liefert ein unwillkürliches Echo auf die Serialität der fotografischen Werke von Bernd und Hilla Becher, Hans Eijkelboom oder Lewis Baltz, bei denen das Einzelbild nur im Verbund mit typologisch gleichgesinnten Bildern signifikant wird. Aber anders als in den Tafeln der eben zitierten Konzeptfotograf*innen kreisen die Aufnahmen von Stuke und Pluta nicht um einen einzigen Objekttypus, dessen Variationen und Wiederholungen erschöpft werden, sondern ähneln einer langen Dérive. Die Rezipient*innen gleiten von einer historisierenden Fassade mit mächtig-abwehrenden Diamantquadern zur Kleinkariertheit einer modernen Fassade in Klinkeroptik, springen auf das Dach einer zwischen höheren Häusern eingeklemmten Maisonette, landen vor ausgestelltem Säulenschmuck, stoßen auf ein als Disney-Dino getarntes Gebäude vor Wüstenkulisse, beamen sich in die Führung einer asiatischen Tempelanlage und rutschen weiter von Bild zu Bild und von Assoziation zu Assoziation. Ein stetiger Bilderfluss ohne Zentrum und Schwerpunkt, ohne roten Faden, eine flache Landschaft, dessen Relief erst im zweiten Blick erscheint. Dies gilt allerdings nur für die Instagram-Version des Projektes. Während die Grid-Struktur keine weitere Hierarchisierung des Sehens als die übliche, kulturell geprägte Leserichtung induziert (und daher einen Anschein von Neutralität unterhält), wurde die Ordnung der Bilder bei der grafischen Übersetzung in Buchform neu gewichtet. Die Größe der unterschiedlichen Motive richtet sich nach der Zahl an Likes, die Followers während ihrer eigenen kleinen Dérive vergeben haben. Und weil der Blick zunächst große oder prominent platzierte Bilder erfasst, schaffen Pluta und Stuke eine weitere Ordnung der Rezeption, diesmal deutlicher geführt und bestimmt.
Mehr als das dialogische Prinzip einer geteilten Auktorialität, das seit der Moderne intensiv gepflegt und zurzeit geradezu inflationär eingesetzt wird, und mehr als die Auseinandersetzung mit und Reaktivierung von Archivmaterialien, die gerade im Corona-Jahr von vielen Produzent*innen goutiert wird, erscheint mir der lineare, strukturierende Zug des Projektes von Stuke und Pluta besonders interessant. Denn er zwingt geradezu zu einer Hinterfragung der Rezeptionsmodi des fotografischen Bildes und damit zu einer Hinterfragung unseres perzeptorischen und kognitiven Vermögens. Wie wird ein Bild gelesen? Welche Fähigkeiten und welches Vorwissen müssen Rezipient*innen mitbringen, um einen Zugang zu einem fotografischen Motiv zu erhalten? Kann sich ein Bild überhaupt als Solitär in seiner kulturellen und historischen Umgebung behaupten oder ist es nicht vielmehr ständig auf die Nähe und auf die partiellen Deutungsangebote anderer Bilder angewiesen? Welche gespeicherten und erinnerten Bilder setzt ein neues Bild voraus, wenn es zum ersten Mal gesehen wird? Und ist der Glaube an eine „retinale Fotografie“ (im Sinne der „retinalen Malerei“ von Duchamp) nicht ein Selbstbetrug erster Güte?
Trotz seiner Entstehungsbedingungen im Lockdown darf das Projekt von Katja Stuke und Stefanie Pluta also nicht als Zwangsbeschäftigung zweier Fotografinnen abgetan werden, die plötzlich zuhause bleiben müssen und keine anderen Arbeitsoptionen als die Beschäftigung mit der eigenen Bilddatenbank haben. „Meet Me in Quarantine“ ist eine auf die Konjunktur angepasste Reflexion über die Natur des fotografischen Artefaktes und über seine distributive Wandlungsfähigkeit. Private Bilder, irgendwann und irgendwo aufgenommen, als Dateien in einem digitalen Speicher abgelegt, dann auf einer öffentlichen Plattform publiziert – und nun in klassischer Buchform fixiert, haptisch und irgendwie physisch erlebbar. Von der SD-Karte zur Bibliothek via Cloud und Server. Hinter der ikonografischen Dérive an der Oberfläche des Projektes ist es gerade die Behandlung dieser medialen Dynamik des fotografischen Bildes, die „Meet Me …“ intellektuell anregend macht.


Vom Blicken und Bauen: Stefanie Plutas Urban Peep Show
Text zur Publikation Urban Peep Show von Konstantin Butz

Der berühmteste und berüchtigtste der Kyklopen, jener ungeheuerlichen Geschöpfe aus der griechischen Mythologie, war Polyphem, der Sohn des Poseidon. Nur durch eine List und die Blendung dieses einäugigen Riesen gelang es seinerzeit Odysseus und seinen Gefährten, sich aus der Gefangenschaft in dessen Höhle zu befreien. Diese Geschichte ist bekannt. Doch während sie vor allem die Gesetzlosigkeit des menschenfressenden Polyphem hervorkehrt, macht sie vergessen, dass das Volk der Kyklopen, neben dem äußerlichen Merkmal der Einäugigkeit, besonders für seine Baukunst bekannt war. Während die Kyklopen bei Hesiod die Blitze für Zeus schmieden, zeugen besonders die sogenannten „Kyklopischen Mauern“ von ihren Fertigkeiten als Bauarbeiter, die auch heute noch etymologisch in der Bezeichnung des Zyklopenmauerwerks (wie es eingedeutscht mit „Z“ genannt wird) nachhallen. Es beschreibt eine Bauweise, die das geschickte, fast fugenlose Stapeln verschiedener Felsbrocken beinhaltet.
Dass dieser kurze Ausflug in die griechische Mythologie den Auftakt zu einem Text liefern möchte, der sich mit der Ausstellung Urban Peep Show beschäftigt, die von der Künstlerin Stefanie Pluta im Ausstellungsraum Baustelle Schaustelle in Essen gezeigt wurde, mag zunächst anachronistisch, wenn nicht willkürlich anmuten. Urban Peep Show beschäftigt sich mit dem Ort oder, genauer, dem Phänomen der Baustelle als visueller Komponente im urbanen Raum zeitgenössischer Städte. Pluta zeigt darin Fotografien aus New York, Köln und von der Mosel. Der hellenische Einstieg liegt demnach nicht zwangsläufig nahe, speist sich allerdings direkt aus einer Beobachtung, die – ebenfalls den Einstieg bestimmend – die Besuchenden der Ausstellung gleich beim Betreten der Schauräume machen können.
Über dem Durchgang, der den Eingangsbereich in die Ausstellung bildet, hängt ein Bilderrahmen, in dem ein Auge zu sehen ist, das auf die Szenerie der Ankunft zu schauen scheint. Die nähere Betrachtung offenbart, dass es sich um einen Teil, genauer gesagt, um das herausgerissene Papierstück eines Plakates handelt. Vermutlich war hier vormals ein ganzes Gesicht, eine ganze Person zu sehen. Nun ist es nur noch ein Auge. Es ist ein einäugiger Blick, der hier angedeutet wird. Er entsteht nicht auf Augenhöhe, sondern schaut gottgleich von oben herab. Dieses Ausstellungsdetail evoziert die Assoziation mit dem Kyklopen und eröffnet dadurch einen Diskursraum, der sich hervorragend eignet, um die Arbeiten von Stefanie Pluta zu kontextualisieren und zu charakterisieren.
Klammert man für den Moment das sagenhafte Narrativ aus, das den Kyklopen ihren Ruf als ungeheure Geschöpfe andichtet, und konzentriert sich auf die darüber hinaus mit ihnen verbundenen Wesensmerkmale, so sind diese von einem besonderen – dem einäugigen – Blick und damit von einer besonderen Perspektive sowie der Fähigkeit besonderer Baukünste und dem Erschaffen besonderer Bauwerke geprägt. Kurz: Die kyklopische Assoziation impliziert einen Kontext von Blick und Bau, von Wahrnehmung und Erschaffung. Dass diese Kombination sich auch im Namen des Ausstellungsraums Baustelle Schaustelle – also einem Raum für Bauen und Schauen –  spiegelt, verstärkt die Assoziationskette und greift explizit die Thematiken auf, denen Pluta in ihren Arbeiten nachspürt.
Es geht der Künstlerin darum, genau hinzuschauen. Sie entwickelt einen eigenen Blick, den sie über die Stadt streifen lässt und der an den Stellen hängen bleibt, die Unruhe in die festzementierten Strukturen urbaner Landschaften bringen. Es sind Baustellen, also Orte der Veränderung, die ihre Aufmerksamkeit erregen. Sowohl in Köln als auch in New York dokumentiert sie Orte, an denen gebaut wird. Das eigentliche Geschehen kann allerdings häufig nur erahnt werden, denn es findet hinter Planen und engmaschigen Netzen statt, die durch Gerüstkonstruktionen neugierige Blicke abschirmen. Auf dieses Moment der Verborgenheit scheint Pluta durch den Titel Urban Peep Show anzuspielen. Als Betrachter ist man versucht, über die im Verborgenen stattfindenden Geschehnisse zu sinnieren und hier einen urbanen Eros zu wittern. Die Baustelle verheißt Neues und Unbekanntes, während der sie abschirmende Sichtschutz die Neugier beflügelt wie auch den Wunsch, dahinter zu blicken. Die dadurch erzeugte Spannung wird allerdings nicht aufgelöst, sondern durch die fotografische Fixierung als Moment eingefroren.
Obwohl der Titel Urban Peep Show diese Richtung vorzugeben scheint, präsentiert Pluta ihre Beobachtungen also nicht als Teil eines reinen „Striptease“, der die vollständige Enthüllung eines sich wandelnden Stadtkörpers zum Ziel hat. Sie spielt vielmehr mit dem Moment des Verbergens, der nur andeutungsweise einen Einblick in den eigentlichen Akt des Baustellengeschehens zulässt, jedoch nicht die voyeuristische Präsentation nackter Tatsachen anvisiert. Der französische Philosoph und Semiotiker Roland Barthes hat sich nicht nur in seinen Mythen des Alltags mit dem Striptease beschäftigt. In seinem Essay Die Lust am Text beschreibt er ihn als „fortschreitende Enthüllung“, die letzten Endes mit der Hoffnung einhergeht, durch den Blick auf den nackten Körper die eigene Erregung zu befriedigen. Er stellt den Striptease dem weniger inszenierten Moment der Unterbrechung gegenüber. „[D]ie Unterbrechung ist erotisch“, erklärt Barthes und entdeckt sie zum Beispiel an Stellen freigelegter Haut, der „Haut, die zwischen zwei Kleidungsstücken glänzt“. Dieses Hervorblitzen lässt sich in Stefanie Plutas Arbeiten erahnen. Ihre Fotografien präsentieren Ausschnitte und Zwischenstadien, die immer einen Übergang oder eine Veränderung andeuten:
Es wird ein feines durchsichtiges Netz abgebildet, das, einem Theatervorhang gleich gelupft, die Sicht auf Teile einer Gerüstkonstruktion freigibt. Das Backsteinmauerwerk eines New Yorker Wohnhauses trifft auf das opake Weiß einer meterhohen Bauplane. Holzbretter verbarrikadieren die Fenster eines Hochhauses und lassen nur erahnen, dass dahinter nicht gewohnt, sondern gebaut wird. Ein Maschendraht, der sich an einem Stahlgerüst emporzieht, durchkreuzt und irritiert den Blick auf den dahinter befindlichen Betonrohbau. Das eigens dafür in einem Bauzaun installierte Guckloch gewährt die ausschnitthafte Einsicht auf den Arm eines Baggers. Entlang einer Treppe aufgestellte Bauzäune sind mit weißen Planen bespannt und so platziert, dass sie einen fortlaufenden Sichtschutz bilden.
Stefanie Plutas Arbeit ist an diesen Stellen ganz explizit von dem Zusammenspiel von Blick und Bau geprägt. Sie sensibilisiert die Betrachtenden für die vielschichtige Lebendigkeit, die in einem subkutanen Verhältnis zu den Fassaden einer Stadt steht und dort allenfalls als Unterbrechung zwischen den Teilen urbaner Räume hervorblitzt, die als „fertig“ gelten.
Auf den ersten Blick aus dieser Serie herauszufallen scheinen die Fotografie von zwei Betonsäulen, die als Stützpfeiler einer noch zu bauenden Talbrücke dienen, und die Präsentation eines Videoloops, der eine futuristisch anmutende Maschine zeigt, die ebenfalls säulengleich in den grauen Himmel ragt und durch ein an seiner Spitze vereistes Rohr Dampf ausstößt. Im Gegensatz zu den anderen Bildern ist der Blick der Betrachtenden hier nicht verstellt oder beeinträchtigt. Er trifft unmittelbar auf die Szenerie einer Baustelle, die im Falle der Brückensäulen nur dadurch als solche zu erkennen ist, dass diese Pfeiler eindeutig von der Unfertigkeit eines Bauwerks zeugen, das erst in einer zu antizipierenden Zukunft das abgebildete Tal überspannen wird. Auch wenn die gedankliche Rückbindung an den Riesen Polyphem an dieser Stelle tatsächlich die assoziative Spannkraft einer griechisch-mythologischen Deutung überdehnen würde, fällt unmittelbar das riesenhafte Wesen der Brückensäulen ins Auge. Wie Teile einer gigantischen Tempelruine dominieren sie die Tallandschaft und lassen die darunter befindlichen Wohnhäuser winzig erscheinen. In einer nahezu deiktischen Geste deuten sie in Richtung Himmel und bilden somit eine Verbindung, die den Blick der Betrachtenden zwischen dem irdischen Fundament einer menschlichen Siedlung und der himmlischen Unbegrenztheit des Firmaments in der Schwebe hält. Der Ort der Baustelle bzw. die Elemente, die ihn überhaupt als solchen markieren, erhalten somit eine skulpturale Aura, die den ästhetischen Gehalt hervorkehrt, dem die Künstlerin in ihren Fotografien nachspürt.
Auch der Blick auf den Dampf, welcher der säulenartigen Konstruktion in der von Pluta gezeigten Videoinstallation entweicht, kann zunächst im Augenblick einer rein ästhetischen Kontemplation verweilen, die das Zusammenspiel verschiedener Grautöne auf sich wirken lässt. Der verschwimmende Kontrast zwischen einer abgelassenen Dampfwolke und dem grau bewölkten Firmament greift das Verhältnis zwischen Erde und Himmel erneut auf und präsentiert es als Moment des Austarierens: Was eben noch als Teil einer Baustellenmaschine abgesondert wurde, verschwindet schon bald im wolkigen Grau der Erdatmosphäre. Wird diese Beobachtung jedoch zu einem informierten Blick erweitert, indem die Betrachtenden erfahren, dass die Aufnahmen von der Baustelle des eingestürzten Historischen Archivs der Stadt Köln stammen, so erhält die ästhetische Komponente eine ethische Dimension. An der Unglücksstelle sind nicht nur zwei Menschen ums Leben gekommen, auch ein Großteil des historisch-kulturellen Gedächtnisses der Stadt Köln wurde hier stark beschädigt oder gar vollständig zerstört. Als Arbeitsgerät an diesem Ort wird die dampfende Maschine also zur symbolischen Mahnsäule, die darauf hinweist, dass hier immer noch eine Wunde klafft. Während die Fotografien der anderen Baustellen immer die Spannung des Verborgenen in den Fokus stellen und dadurch eine fast erotische Neugierde wecken, ist der unverstellte Blick auf die Dampfwolke und das Arbeitsgerät mit der Erinnerung an eine Tragödie verknüpft. Auch wenn man das Ganze zunächst bloß als interessantes Formenspiel von Dampf und Wolken betrachten kann, integriert die Perspektivierung des informierten Blicks an dieser Stelle das Element der kritischen Nachfrage und des Innehaltens. Auf diese Weise wird deutlich, inwiefern die Orte, an denen Menschen bauen und konstruieren, immer auch Orte der Geschichte und der Geschichten sind: voller Erinnerungen, voller Schicksale und voller Potenziale.
Diese Orte, diese Baustellen, evozieren Mythen, archivieren Gedanken und schüren Erwartungen. Es hängt von dem jeweiligen Blick ab, was genau dort zu sehen ist und wie das Gesehene – zumindest für den Moment – eingeordnet wird. Stefanie Plutas Arbeiten laden dazu ein, sich diesem Blick – ganz ohne Blendung – zu stellen.
Konstantin Butz, März 2017

Die zitierten Passagen von Roland Barthes stammen aus: Die Lust am Text, Frankfurt a. M. 1990.

Scenario for a Crystal, Ausstellungstext zur Einzelausstellung im Walzwerk Null in Düsseldorf
Ausstellungstext von Isa Köhler

Mit der Mixed Media Installation Scenario for a Crystal begibt sich Stefanie Pluta auf eine künstlerische Recherchereise
in die Schweizer Zentralalpen. Ausgangpunkt ist der Indergand Kristall – eine große, besonders ausgewogene, schimmernde Rauchquarzgruppe – auf dessen Spuren sie Fragen nach ästhetischen Elementen von Materialität, Erscheinung und Textur ebenso folgt, wie seiner Verortung, Symbolkraft und Inszenierung. Naturfotografien, die ausschnittartig in die Alpenwelt eintauchen, maßstäbliche Zeichnungen eines Bergmassivs und leere modellhafte Vitrinen, bilden eine Topographie, die sich dem abwesenden Protagonisten nähert. Hin zur Abstraktion seziert Stefanie Pluta ohne Pathos das Geheimnis des Kristalls in seiner Anmutung des Erhabenen.
Der Kristall und das Kristalline sind ein gängiges Kunstsymbol des vergangenen Jahrhunderts. Insbesondere unter Malern und Architekten des Expressionismus leiteten sich Stilmittel und Gesellschaftskonzepte aus der Beschaffenheit und Form des Minerals ab. Als Materie von hellen, klaren, reinen und transparenten Eigenschaften, wird der Kristall zum magischen Symbol des euphorischen Fortschrittsglaubens und steht unter dem Kunsthistoriker Wilhelm Worringer kennzeichnend für die ästhetische Ausdrucksform der Abstraktion. Der Kristall als absolute Form ist in seiner Kostbarkeit Projektion für Sehnsuchts- muster und Utopien.
Stefanie Pluta löst sich immer wieder von der geschlossenen vollkommenen Form des Kristalls und der Ästhetik des Naturschönen. Ihre Fotografien halten inne in Metamorphosen, zitieren Eigenschaften des Kristallinen und multiplizieren sie über Flächen. Der Ausschnitt einer Bergwand, aus dem sich das schroffe Gestein wie ein Relief vielfach zackig herausbricht, ein Graben, der sich als Schneise mit klarer Linienführung in den Boden zeichnet oder Regen, der sich als schillernd, dichter Vorhang flächig über die Fauna legt. Sie untersucht Oberflächen, Geometrie, Farbigkeit und Zustand. Die Aufnahme eines Waldes spart seine Wipfel aus und zeigt Bäume als Stämme, die parallel nach oben wachsen. Der Ableitung von Charakteristika steht deren Negation gegenüber. Wo Stefanie Pluta die harte Materialität des Kristalls im Motiv eines Findlings wiederholt, setzt sie ihm zugleich die runde, sanfte Form des Steins entgegen.
Stefanie Plutas Fotografien sind fast ausschließlich in schwarz-weiß gehalten oder orientieren sich in ihrer Farbigkeit an dem kühlen Spektrum, das in der Nähe zur Transparenz des Kristalls und seiner eisigen Umgebung erscheint: als Variation von milchig-weiß, grau und vereinzelt hellen Blautönen. Während Pluta die Facetten des monochromen durchläuft, folgt sie auch der Metamorphose verschiedenster Aggregatszustände des Wassers – von Nebel zu Regen, von Schnee und Eis. Der Kristall dagegen markiert einen Endpunkt, ein festes Ideal, das seine Form nicht verändert. Pluta macht ihn ein Stück weit greifbar und umschreibt seinen Kontext, seine direkte Umgebung in unmittelbarer Nähe seines Fundorts. Die Bergwelt wird zum Leitmotiv und ist umspannende Klammer der Spurensuche. Sie ist Kulisse eines Schatzes, dessen Inszenierung mit seiner Entdeckung beginnt. Dabei zeigt Stefanie Pluta kein Alpenpanorama in Gänze, sondern konzentriert sich auf die Strukturen des Äußeren. Das weiß-gräuliche Vlies, das den Gletscher vor den Kräften der Sonne zu schützen versucht, wirkt in Plutas Fotografien wie das Relikt einer Drapierung. Zwischen den vielen Falten und Knoten lugt in Segmenten der Gletscher hervor. Angegraut und verschlissen verhüllt der Stoff dürftig das Eis und zeugt vom Verfall.
Zu den Fotografien platzieren sich abstrahierte Modell dreier Vitrinen, die für den Indergand Kristall an seinen bisherigen Standorten gebaut wurden. Sie unterscheiden sich in ihren geometrischen Formen und lassen erahnen, dass ihre jeweiligen Hersteller – darunter der Schweizer Künstler Max Bill – in Auseinandersetzung mit dem besonderen Objekt jeweils mit einem Unikat als Schutzhülle und Schaukasten antworteten. Die verkleinerten Modelle der Vitrinen hinterlassen eine Leerstelle, welche Rückschlüsse über die konkreten Dimensionen des Kristalls ausspart. Wie ein Kristall kondensiert sich in ihnen die geschlossene Form, deren Linien sich in der Vorstellung ins Ewige verlängern. Stefanie Pluta bricht mit der Exklusivität
des abwesenden Objekts, seiner transzendenten Symbolkraft und holt es buchstäblich vom Sockel. Eine Fotografie zeigt einen kleinen einzel- nen Kristall, der in einer offenen Handfläche wie ein Schmeichler ruht. Daneben ein Bild mit mehreckigen Zeichnungen, abstrakte Querschnitte der Sandbalmhöhle, die sich nahezu naiv wie eine Schatzkarte lesen ließe und den interessierten Forscher an den Fundort führt.

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